A wave symbolizing the flow of tantra.

s.l.o.w. change

Über einen Workshop, der uns mit patriarchalen Strukturen konfrontierte und warum wir ein paar Schritte aufeinander zugehen müssen, um wirklich weiterzukommen.

Brütende Hitze, August. Wir hatten uns auf dem Herzberg oberhalb von Aarau zu s.l.o.w. – Sexuality in:and:or Community versammelt. Vier Tage, um Sexualität in Gemeinschaft zu erkunden, consentbasiert und achtsam. Doch plötzlich stand ein Statement im Raum, das alles veränderte:

"Ich bin nicht mehr verfügbar"

Diese vier Worte, ausgesprochen von einer weiblich sozialisierten Person, trugen Wut und Müdigkeit in sich, die über die aktuelle Situation hinauswies. Wut darüber, ungehört zu sein, angeekelt von zu vielen mit:erlebten Übergriffen, müde vom Mental Load und der Last der Regulation, die allzu oft auf weiblich gelesenen Menschen ruht. Und frustriert von einer Gesellschaft, die sexuelle Befreiung verspricht, aber die emotionalen Kosten nicht selten weiblich sozialisierten Menschen überwälzt – im Dating genauso wie in der Kleinfamilie.

Onda + Mare Sexological Bodywork. Skin

Auftritt: das Patriarchat.
Und darum herum eine zerrissene Gruppe.

Was war passiert? Das Retreat hatte einen Männerüberschuss, und entsprechend fokussierten sich Bedürfnisse emotionaler und sexueller Natur mit spürbarer Intensität auf die weiblich gelesenen Körper. Für nicht wenige männlich sozialisierte Menschen ist Sexualität der einzige Weg zu Nähe und Geborgenheit.

Was aus emotionaler Not entspringt, wird durch die physischen Machtverhältnisse schnell zur Bedrohung. Louise Perry beschreibt das nüchtern: Der durchschnittliche Mann ist der durchschnittlichen Frau körperlich so überlegen, dass er fähig ist, sie mit blossen Händen zu töten. Umgekehrt ist dem nicht so.* Ich stimme nicht überall mit Perry überein, aber dieses Zitat benennt eine Realität, die wir nicht ignorieren können.

Was passierte mit den männlich gelesenen Teilnehmenden? Der Wunsch nach Verschmelzung, nach Einswerden, nach harmonischen körperlichen Begegnungen war blockiert. Sie steckten in der Zwickmühle: Schwiegen sie, heizten sie die Stimmung nur weiter an. Sprachen sie, nahmen sie zu viel Raum ein, und das Wort wurde ihnen schnell wieder abgeschnitten.

Unsere Antwort war pragmatisch. Wir versuchten die Kluft in der Gruppe gar nicht erst zu schliessen, sondern akzeptierten sie erst einmal als das, was sie war.

Eine feine Linie

Mit Malerklebeband teilten wir den Raum. Eine Hälfte nur für weiblich gelesene Körper, der Rest für beide Geschlechter.Was dann geschah, war bemerkenswert. Die Trennung löste bei weitem nicht das grundlegende Problem, aber sie schuf Raum für authentische Dynamiken statt für reaktive Muster.

Es entstand Raum für eigenes: Die männlich sozialisierten Menschen diskutierten und entwickelten ein Umarmungsritual. Auf der anderen Seite zeigte sich: Weiblich gelesene Menschen teilen gemeinsame Erfahrungen, aber die Erwartungen an Sisterhood sind oft überzeichnet. Erlebte Übergriffe und strukturelle Benachteiligung macht uns nicht automatisch zu Verbündeten in allen Situationen. Und so ging es auf dieser Seite des Raumes auch darum, sich immer wieder zwischen Verbundenheit und Eigenständigkeit zu positionieren.

Im Lauf dieses Tages löste sich die Spannung in der Gruppe. Es gab wieder Luft zum Atmen, es entstand ein anders gefärbter Raum.

Das Problem wurde nicht gelöst. Aber es wurde anerkannt.

Ein erster Schritt

Im Alltag treffen wir selten auf eine Kultur, in der Fehler und Konflikte offen benannt werden können, ohne dass sofort Abwehr entsteht. Sie gelten nach wie vor als Makel – dabei sind sie schlicht menschlich.

Wirklicher Wandel beginnt dort, wo wir Verantwortung übernehmen und den Schmerz des anderen anerkennen, ohne ihn wegzudiskutieren oder zu relativieren. Wenn ich jemandem auf den Fuß trete, bestreite ich wohl kaum, dass dies meinem Gegenüber wehgetan hat, auch wenn ich es nicht absichtlich getan habe. Ich akzeptiere, dass ich die andere Person verletzt habe, übernehme Verantwortung – und lerne etwas über mich und den anderen Menschen. Genau diese Haltung brauchen wir auch in intimen, sozialen und gesellschaftlichen Spannungsfeldern.

Aus meiner Erfahrung sind daraus vier Schritte entstanden, die echte Veränderung ermöglichen:
Anerkennen – eine Verletzung als solche wahrnehmen, auch wenn sie nicht intendiert war oder auch wenn dasselbe für mich keine Verletzung wäre.
Verantwortung übernehmen – die eigene Rolle reflektieren – woher kommt mein Handeln?
Wiedergutmachung leisten – konkrete Schritte gehen, um den entstandenen Schaden zu reparieren. Das kann auch eine ernsthafte Entschuldigung bedeuten.
Vergeben – sich selbst und anderen vergeben, ohne zu vergessen oder Grenzen aufzugeben.

Onda + Mare Sexological Bodywork. Skin

Slow Change

Veränderung geschieht langsam – Schritt für Schritt. Indem wir anerkennen, Verantwortung übernehmen, wiedergutmachen und vergeben. Wenn wir aufhören, die sprichwörtliche Faust im Sack zu machen, und stattdessen diese vier Schritte gehen.

Denn am Ende reproduzieren wir alle patriarchale Muster.  Auch weiblich sozialisierte Menschen können übergriffig sein. Doch gerade darin liegt Hoffnung: Wenn wir alle Teil des Problems sind, können wir auch alle Teil der Lösung sein.

Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir Fehler machen. Sondern, ob wir bereit sind, Verantwortung dafür zu übernehmen. Und vielleicht bedeutet Slow Change genau das: Schritt für Schritt Verantwortung zu übernehmen – bis wir die Machtstrukturen des Patriarchats nicht länger in uns tragen, sondern gemeinsam etwas Neues weben.

Eine Kultur, in der Fehler und Konflikte uns nicht trennen, sondern Brücken bauen, uns wirklich zu sehen.

Genau diese Fragen – wie Sexualität in Gemeinschaft möglich ist – erforschen wir im April am Bodensee:
n.a.k.e.d.
Sexuality in:and:or Community
15.-18. April 2026 | Schloss Glarisegg |
Mehr Infos hier

*
Louise Perry (2022): The Case against the Sexual Revolution: a New Guide to Sex in the 21st Century. Cambridge.